An einen Satz aus Ramys "Diplomatie Buch" erinnert mich mein Onlineleben wieder und wieder ;-)
"Das geht sogar so weit, dass man, um Widersprüche der anderen Teilnehmer zu vermeiden, sich selbst im gleichen Atemzug sachlich widerspricht und das Gegenteil von dem behauptet, was man noch im Augenblick davor gesagt hat, um sich im nächsten Augenblick wieder selbst zu widersprechen" S. 103.
Solches Agieren ist beim Ermitteln von Konsens in tribalen Gesellschaften beobachtbar, und ja, tribale Gesellschaft, finde ich zumindest eine humoristisch wertvolle Perspektive auf vieles, was im Fediverse beobachtbar ist.

@ramyologist
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Ich klebe ausreichend Ausschnitte hier drunter für einen schönen Lesenachmittag. Bitte schmunzelt und tanzt ums Feuer.

"Die Berücksichtigung möglichst aller Perspektiven kann unter solchen Umständen einen Vorrang gegenüber der Artikulation eigener Auffassungen beanspruchen (Read 1959: 431). Das geht sogar so weit, dass man, um Widersprüche der anderen Teilnehmer zu vermeiden, sich selbst im gleichen Atemzug sachlich widerspricht und das Gegenteil von dem behauptet, was man noch im Augenblick davor gesagt hat, um sich im nächsten Augenblick wieder selbst zu widersprechen (Kulick 2004: 127ff.). Das wird nicht als Problem gesehen, sondern gilt als vorbildliche rhetorische Begabung, und eine dementsprechende Interaktionsmoral prämiert Tugenden der Zurückhaltung und Unaufdringlichkeit mit der möglichen Folge, dass niemand mehr wagt, die erste Initiative zu ergreifen (Liberman 1985: 31; vgl. auch Marshall 1961: 235f.; McKellin 1990: 336ff.) – im krassen Gegensatz zu endemischen Rangkonflikten in stratifizierten Gesellschaften" 103.

"Das führt, neben dem erwähnten Phänomen logischer Selbstwidersprüche, einerseits zu Höhenflügen reflexiver Beobachtung, weil man weiß, dass alle wissen, dass man weiß, dass niemand sagt, was er denkt: »No matter what they say or agree to during a formal meeting, everyone [...] knows that men and women will, in the end, do what they want« (Kulick 2004: 126; vgl. Lindstrom 1990: 385ff.). Wenn man sich dann aber so verhält, wie man in einer Verhandlung zugesichert hat, muss dies nicht als Erfüllung einer Zu- sage verstanden werden, sondern kann als Ausdruck von Präferenzen ausgewiesen werden, die man vorgeblich schon immer hatte und denen man auch ohne Verhandlung gefolgt wäre (Kulick 2004: 126)" 104.

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"Es überwiegt insgesamt der Eindruck, dass in tribalen Verhandlungen talk, decision und action kaum unterschieden werden können (siehe mit einer Fülle an weiteren Literaturhinweisen Brison 1989; zum Handeln als »Selbstzweck« in segmentären Gesellschaften Gehlen 1977: 29ff.). Verhandelt wird weniger, um sachliche Ergebnisse mit zeitlicher Fernwirkung zu erzielen. Vielmehr ist, wie auch der Abschnitt zur Zeitordnung in segmentären Gesellschaften nahegelegt hat, das Gelingen der Interaktion selbst das »Ziel«. Jede Bedürfnisbefriedigung sollte unmittelbar in der Interaktion erfolgen und kann kaum im Hinblick auf eine Fernwirkung vertagt werden (Lee 1949: 408f.).11 Jede Andeutung eines konkreten Verhandlungszieles könnte Wi- derspruch provozieren, Gefühle und Selbstdarstellungen verletzen und da- mit die Interaktion in einer ohnehin angespannten Lage gefährden. Konflikte werden, wenn sie nicht in Ritualen kanalisiert werden, gemieden, sodass die Themen weniger nach sachlichen Problemlagen in der gesell- schaftlichen Umwelt der Verhandlung variieren, sondern nach den Konsen- schancen in der Interaktion selbst. Insofern werden die Verhandlungsteilnehmer nicht an Entscheidungen oder sachlich bestimmbare Ergebnisse weltpolitisch gebunden. Vielmehr liegt der Sinn von Verhandlungen in der Erarbeitung einer gemeinsamen Beschreibung des Konfliktverlaufs sowie in der wechselseitigen Darstellung einer positiven Gesinnung, die vor allem im Gabentausch sowie in der Leistung von Reparationszahlungen zum Ausdruck kommt (Lee 1984: 97ff.)" 106f.

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